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Technologie
WEM GEHÖRT DIE STRASSE DER ZUKUNFT?
Das Konzept der intelligenten Straße ermöglicht eine flexible Antwort
15.07.2020
Berlin
Die kalifornischen IT-Giganten kamen bei der Neuerfindung der Autoindustrie nicht weit. Die deutschen Autohersteller haben Apple, Google & Co bei autonomen Fahren bereits hinter sich gelassen. Autonome und intelligente Autosysteme beherrschten die Debatte über die neue Mobilität der Zukunft und damit scheinbar weiterhin den Anspruch auf den Straßenraum selbst. Dann kam die Pandemie und die Menschen stiegen massenhaft auf Fahrräder um, um einer Ansteckung in den öffentlichen Verkehrsbetrieben aus dem Weg zu gehen. Damit wurde erneut deutlich, dass die Frage wem die Straße der Zukunft gehört nach wie vor unbeantwortet ist und einer gesellschaftlichen Debatte über die (Neu)Gestaltung des öffentlichen Raums weitere Kraft verleiht.

Eingebettete LEDs transformieren die Straße nach Bedarf indem sie Fahrspuren, Bürgersteige oder sogar die Straßenrichtung verändern
Vor Jahren unternahmen die digitalen Vordenker einen Großangriff auf die Autoindustrie. Von den visionären Projekte wie die eierförmigen Roboterautos von Google oder Apples „Titan“ ist allerdings nichts mehr zu hören. „Google baut kein Auto. Google baut den Fahrer.“, sagte Dmitri Dolgov, der bei Google für die Selbstfahr-Technik verantwortlich ist. Die IT-Giganten haben sich klar neuorientiert. Mit Schwarmintelligenz vernetzten sie Autos und nutzten die Rechenkraft der neuen Fahrzeuggenerationen, um die Welt neu zu vermessen.
Mit Vermessungs- und Navigations-Software kennen wir unser Straßennetz heute so gut wie nie zuvor. Auf zehn Zentimeter genau werden digitale Straßenkarten erfasst, denn das autonome Fahren erfordert diesen Grad der Genauigkeit um fehlerfrei funktionieren zu können. Wir kennen die Straße so detailliert wie noch nie, haben jedoch immer noch nicht die Frage beantwortet, wem sie eigentlich gehört. Wir kartographieren ein System, welches die große Erfindung des zwanzigsten Jahrhunderts war, aber damit auch der Vergangenheit angehört. Der Siegeszug des individuellen Autoverkehrs verwandelte im letzten Jahrhundert unsere Städte in Netzwerke von autopulsierenden Arterien, die mit einer Selbstverständlichkeit den Straßenraum für sich vereinnahmten. Diese Selbstverständlichkeit wird heute vielerorts in Frage gestellt.Straßen existierten seit Ewigkeiten nicht nur als Durchgangsstraßen, sondern auch als lebendige Zentren kommerzieller und sozialer Aktivitäten. Die Antwort auf die Frage wem die Straße gehört war ursprünglich: jedem! Erwachsene, Kinder, Pferde, Kutschen, Straßenbahnen, Verkäufer, sie alle fanden ihren Platz im Straßenraum. Das Automobil hat dieses Konzept geändert und es scheint, als würden die globale Pandemie und das Fahrrad den Prozess wieder umkehren.
Mit dem Aufkommen von COVID-19 erlebt Deutschland einen Fahrrad-Boom. Immer mehr Menschen steigen auf E-Bike, Pedelec oder konventionelles Rad um und beanspruchen mehr Platz im Straßenverkehr. Radwege sind aber oft Mangelware und Konflikte damit vorprogrammiert.
Verkehrswege: Asphalt und Blech waren gestern. Wir brauchen Flexibilität und menschlichen Maßstab
Wie soll der Straßenraum künftig aufgeteilt werden? Bei vielen Berlinern regt sich der Wunsch nach mehr Platz für den Fuß- und Radverkehr. Ein Drittel aller zurückgelegten Wege in Berlin werden jedoch zu Fuß gemacht. Wer jeden Tag zu Fuß unterwegs ist, sollte eigentlich gesund leben. Tatsächlich kann es aber lebensgefährlich sein. Alleine im Jahr 2016 wurden 2200 Fußgänger bei Unfällen verletzt, 21 starben. Um Unfälle zu verhindern und die Stadt attraktiver für Fußgänger zu machen verfolgt Berlin die Strategie, mit mehr Fußgängerzonen, weniger Umwegen und längeren Ampelschaltungen das fußläufige Volk zu schützen. Viele Zukunftsforscher sehen aber in dem „Schutzkonzept“ das eigentliche Problem der Stadtentwicklung.
„Wie kann ein System gut sein, wenn wir physische Regeln, Zeichen und Ampeln benötigen um die Teilnehmer des Systems vor dem Tod zu schützen?“, sagt Denis Leo Hegic, Architekt, Kurator und Experte für Zukunftsforschung aus Berlin. „Wenn ich ein großes Schild aufstellen muss, das besagt „wenn Du diese Regel nicht befolgst, wirst du in den nächsten Sekunden sterben“, dann kann es sich dabei nicht um ein gutes System handeln. Die Idee der Straße basiert auf dem Selbstbildnis der Nachkriegsstadt des zwanzigsten Jahrhunderts. Fast 100 Jahre später müssen wir das System selbst neu erfinden und nicht an ein paar wenigen Ecken und Enden „umverteilen“. Stellen wir unsere Stadt in naher Zukunft vor. Im besten Fall ist sie einladend, sicher und inspirierend. Die Straßen laden ein genutzt zu werden, die Luft ist sauber. Die Stadt selbst wird zum Schmelztiegel von Kultur und Technologie. Durch das Mischen verschiedener öffentlicher und halböffentlicher Bereiche kann die Straße die Konfrontation zwischen verschiedenen Subkulturen inszenieren. Der Straßenraum muss kein vernachlässigter Ort für Blech sein. Es kann zum Raum werden in dem wir verschiedene Menschen treffen und von ihnen lernen können.
Um das zu erreichen benötigen wir eine urbane Infrastruktur, in der die Dominanz des Autos nachlässt und neue Mobilitätskonzepte ausprobiert werden können. Asphalt und Blech waren gestern. Was wir benötigen sind Flexibilität und menschlicher Maßstab, sowohl in Sinne von Distanz als auch Geschwindigkeit.“
Städte haben oft das Schlimmste aus beiden Welten, wenn es um Straßendesign geht: gefährliche Höchstgeschwindigkeiten oder Schneckentempo, das alle zum Wahnsinn treibt
Die Lösung besteht häufig darin, die Straßen durch Hinzufügen von Fahrspuren und Puffern breiter zu machen. Dieser Ansatz kann jedoch mehr schaden als nützen, denn breite Straßen fördern Geschwindigkeitsüberschreitung und machen eine Fußgängerkommunikation zwischen den Straßenseiten unmöglich. Mehr Fahrspuren führen auch zu Straßen, die sich ausserhalb der Stoßzeiten leer anfühlen, denn ihr Worst-Case-Verkehrskonzept ist zeitlich nur auf die Rush Hour begrenzt.
Technologie ist kein Allheilmittel für Mobilitätsprobleme. Aber sie bietet die Möglichkeit, unser Straßensystem mit engeren, sichereren Straßen grundlegend neu zu gestalten, damit die Menschen sicher und bequem dahin gelangen, wo sie hin müssen.
Vernetzte und autonome Fahrzeuge (CAVs) können auf die Einhaltung der Geschwindigkeitsbegrenzungen programmiert werden und in engen Straßen fahren, in denen Fahrspuren nicht mit Farbe auf Asphalt für immer festgelegt werden, sondern flexibel erscheinen, verschwinden oder ihre Richtung ändern können.
Vernetzte Fahrzeuge werden von Menschen gefahren, die weiterhin Warnungen zu potentiellen Gefahren, Konflikten, Geschwindigkeitsbegrenzungen oder gefährlichen Bedingungen empfangen und befolgen müssen, um ihre und die Sicherheit der anderen Verkehrsteilnehmer zu gewährleisten.
Autonome oder selbstfahrende Fahrzeuge können diese Informationen selbst aufnehmen, verarbeiten und das Fahrzeug selbst steuern. Von CAVs kann erwartet werden, dass sie zum Beispiel Geschwindigkeitsbegrenzungen einhalten, sich aus Bereichen heraushalten, die eingeschränkt sind, und die Regeln für die Interaktion mit Radfahrern und Fußgängern einhalten. Diese Fortschritte gelten auch für E-Bikes und E-Scooter, die so programmiert werden können, dass sie auf den, für sie bestimmten, Fahrzeug- und Radwegen bleiben. CAVs könnten sicherer auf engeren Straßen fahren, die für eine Mischnutzung Autoverkehr, Fahrräder und Fußgänger konzipiert werden.
Dynamische (LED-eingebettete) Gehwege und bewegliche Straßenmöbel können dazu beitragen, die Anzahl der Fahrspuren, die Breite des Bürgersteigs und sogar die Richtung der Straße anzupassen. Dies bedeutet, dass eine schmalere Straße je nach Bedarf mehrfach genutzt werden kann.
Der Betrieb und der Charakter einer Straße können sich täglich ändern, wenn erhöhte Betonkanten zugunsten dynamischer Gehwege und beweglicher Straßenmöbel entfernt werden können. Mehrere Unternehmen haben begonnen, mit dynamischen Fahrbahnen zu experimentieren, bei denen LEDs in die Oberfläche eingebettet werden, um die Farbe und Form der Markierungen zu ändern. Diese Konstruktionsmerkmale können verwendet werden, um Fahrspuren, Fahrradspuren, Autospuren oder Abhol- / Abgabezonen zu markieren. Sie können auch zum Ändern der Fahrtrichtung einer Fahrspur verwendet werden und bieten mehr Flexibilität als ein fester, durch Steigungen getrennter Bordstein.
Eine solche dynamische Raumzuweisung ermöglicht eine mögliche Reduzierung des Autoraums, wodurch sicherere Überquerungsentfernungen für Fußgänger geschaffen werden. Bereitstellung einer angenehmeren Umgebung zum Flanieren und Radfahren, Verbesserung der Nutzung für Fußgänger mit Kinderwagen, Rollstühlen oder anderen Arten von Hilfsrädern und natürlich das Verlangsamen von Fahrzeugen, die an breite Fahrspuren gewöhnt sind, das sind die zukunftsfähigen Merkmale eines besser funktionierenden Straßensystems.
Sensoren, digitale Straßenschilder, integrierte Navigations-Apps und vernetzte Fahrzeug-Flotten können Echtzeitinformationen zu Geschwindigkeitsbegrenzungen und Fahrbahnsperrungen übermitteln.
Raumbelegungssensoren können Kommunen ein besseres Verständnis der Straßenverhältnisse vermitteln, indem sie Echtzeit-Feedback für die Straßensteuerung generieren. Diese Informationen können Verkehtsteilnehmern direkt über digitale Schilder oder durch Integration in Fahrzeuge und Navigations-Apps übermittelt werden.
Die intelligente Straße könnte auch Muster identifizieren, die im Laufe der Zeit auftreten. Informationen, die für Stadtplaner und Verkehrsingenieure von entscheidender Bedeutung sind. Beispielsweise könnten Straßenkreuzungen mit einem überdurchschnittlichen Verletzungsrisiko für Fußgänger identifiziert werden und mit einem Timing der Ampeln optimiert werden.
Verkehrsmanagement-Tools können den Platz auf der Straße optimal nutzen und die Gesamtzahl der Personen, die eine Kreuzung nutzen, über alle Modi (nicht nur Fahrzeuge) erhöhen. Diese Tools umfassen kostengünstige Sensoren, Edge-Computing-Funktionen, Simulationsmodelle für maschinelles Lernen und adaptive Verkehrssignale, mit denen die Grünzeiten angepasst werden können, um den Fluss zu optimieren oder bestimmte Modi zu priorisieren. Zusammen können diese Tools ein Mobilitätsmanagementsystem bilden, das sich an die Straßenbedingungen in Echtzeit anpassen kann, indem Fahrspuren neu zugewiesen und die Signalzeiten angepasst werden, um alle Modi in Bewegung zu halten - und zwar sicher.
Ein vielversprechender Fortschritt für das Management ist die „grüne Welle“ führ Fahrräder, die mit adaptiven Verkehrssignalen arbeitet, um Radfahrern ein sicheres und bequemes Vorankommen zu ermöglichen. Am Rand des Fahrradwegs eingebettete LED-Anzeigen können vor Radfahrern aufleuchten und ein sich bewegendes grünes Segment bilden. Das Segment legt die ideale Fahrgeschwindigkeit für Radfahrer fest, sodass sie an Kreuzungen ankommen, wenn die Verkehrsampel grün ist. Informationen zu Geschwindigkeit und Grünzeiten können von intelligenten Fahrzeugflotten und Navigations-Apps übermittelt werden.
Mit diesen neuen Fähigkeiten können wir ein überlappendes Straßennetz entwickeln, das jeweils bestimmte Szenarien priorisiert, um die Sicherheit und den öffentlichen Raum zu verbessern, ohne die Bewegung einzuschränken.